Übersetzt von
Aline Bonnefoy
Veröffentlicht am
30. Mai 2025
Nach neun Jahren als Kreativdirektorin für die Damenkollektionen von Dior gab Maria Grazia Chiuri am 29. Mai offiziell ihren Rücktritt bekannt. Die Ankündigung erfolgte wenige Tage nach der letzten Show der Designerin in ihrer Heimatstadt Rom. Vor der prächtigen Kulisse der Villa Albani Torlonia präsentierte sie eine außergewöhnliche Cruise-Show für das Modehaus. Eine unmissverständliche Liebeserklärung an ihre Stadt und eine elegante Art, sich zu verabschieden. Ihre Zeit beim Pariser Modehaus war geprägt von einer selbstbewussten feministischen Ausrichtung und dem Wunsch, das Kunsthandwerk zu würdigen. Rückblick auf vier Schauen, die Maria Grazia Chiuris Jahre bei Dior prägten.
Couture Frühjahr – Sommer 2018
Marken und Modehäuser spielen seit Jahren mit Surrealismus. Damit bringen die Designer ihre Faszination für eine künstlerische Bewegung zum Ausdruck, deren führende Persönlichkeiten (Man Ray, Dalí, Miró, Magritte, Tanning) heute als Vorläufer einer zeitgenössischen Kunst gelten, die sich selbst als befreiend bezeichnet. Maria Grazia Chiuri ließ sich für diese Kollektion insbesondere von der surrealistischen Malerin und Schriftstellerin Leonor Fini inspirieren.
Die kantigen schwarzen oder goldenen Masken, die nur die Augen freigeben, erinnerten ohne Umwege an Dalí. Chiuri verlieh Domino-Prints und Kleidern mit Schachbrettmuster einen neuen Dreh. Auf Taillenhöhe wurden die Silhouetten mit Federn bereichert, während die Kleider die Form von Sanduhren oder Käfigen annahmen. Mit halb-durchscheinenden Kleider, unter denen weiße Strukturelemente sichtbar waren, spielte die Designerin auf René Magrittes Käfig an. Maria Grazia Chiuri lotete Bewegung und Wahrnehmung aus, indem sie mit Transparenz und Schwarz-Weiß-Kontrasten spielte. Auf einem schwarzen Kleid überlagerten Schmetterlinge aus schwarzen Federn weiße Artgenossen für eine kontrastreiche Wirkung.
Herbst – Winter 2019
Diese Kollektion von Maria Grazia Chiuri war den 50er-Jahren gewidmet. Die Designerin zeichnete die Welt der Teddy Girls, eine Gruppe junger Britinnen, die von der Rock’n’Roll-Bewegung beeinflusst wurden. Die Teddy Girls wurden von ihren männlichen Altersgenossen, die als böse Störenfriede Aufmerksamkeit erregten, aus dem Blick der Öffentlichkeit verdrängt. Doch sie zählten zu den ersten jungen Frauen, die in England eine unabhängige Kultur verkörperten. Diese Frauen, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, erlebten die Rationierung und Hungersnöte des Krieges. Ihr Kleidungsstil machte sie berühmt: Sie trugen Kleidung der wohlhabenden Klassen, ähnlich wie die Dandys der Edwardianischen Ära, und kombinierten sie mit Rock’n’Roll-Frisuren und anderen Accessoires.

Maria Grazia Chiuri entwarf für diese Kollektion 89 Looks, darunter zahlreiche Jacken und Mäntel mit weitem Kragen, plastifizierte Fischerhüte mit schwarzem Schleier, Tüll- oder Tartan-Röcke in allen Längen, Gürtel und Perlenketten, die eng am Hals getragen wurden. Durch den Verzicht auf raffinierte Details erinnerten viele Bustierkleider an den von den Teddy Girls abgewandelten Dandy-Stil. Maria Grazia Chiuri verwendete erneut T-Shirts als Sprachrohr für ihre feministischen Botschaften. In dieser Saison bedruckte sie sie mit dem Credo: “Sisterhood is global” (Deutsch: “Schwesternschaft ist global”).
Herbst – Winter 2022
Nachdem dem Exkurs in die englische Mode der 50er-Jahre griff Maria Grazia Chiuri bei dieser Kollektion die französischen Klassiker derselben Ära auf. Die Jahre 1950 bis 1959 folgten auf die Gründung des Hauses Dior und pflasterten den Weg zum Erfolg. Deshalb interessierte sich die italienische Kreativdirektorin für die Klassiker des New Look, der Christian Diors Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg begründete. Der “Bar Suit”, ein stark taillierter Blazer mit ausgestelltem Design, wurde erneut zu fließenden schwarzen Röcken getragen. Die schlichten Kleider mit Hemdkragen und transparenten Oberteilen aus blumiger Spitze wurden durch moderne Motorrad-Accessoires in leuchtendem Blau, Gelb, Orange und Grün ergänzt. Ein Airbag wurde um den Oberkörper geschlungen, während Handschuhe bis über die Ellbogen hochgezogen und die Schulterpartie und der Oberkörper geschützt wurden.

Maria Grazia Chiuri beschloss mit dieser Kollektion, die großen Persönlichkeiten der Eleganz “à la française” zu würdigen. Darunter Édith Piaf, die mit dunklen Kleidern aus schwarzem Samt in Erinnerung gerufen wurde. Ihre Stimme war es auch, die die Show begleitete. Eine Anspielung auf Christian Dior fand sich in den Blumenprints in Himbeerrosa und Rhabarbergrün. Schließlich ehrte Maria Grazia Chiuri Juliette Gréco und ihren androgynen Stil mit langen Röcken und Rollkragenpullovern aus Tweed und Kaschmir, in Kombination mit weiten Jacken.
Herbst – Winter 2025
Für ihre letzte Fashion Show arbeitete Maria Grazia Chiuri mit dem unermüdlichen amerikanischen Regisseur Robert Wilson zusammen. Die Kollektion wurde von Virginia Woolfs Roman Orlando inspiriert, den die Schriftstellerin ihrer Geliebten Vita Sackville-West gewidmet hatte. Letztere war weitgehend Vorbild für die Figur Orlando, eine junge englische Adlige, die Schriftstellerin wird und nach literarischem Erfolg strebt. So wurde die Show in fünf Akte mit traumähnlicher Atmosphäre unterteilt. Die Gäste konnten in einem in Dunkelheit getauchten Saal beeindruckende Szenen beobachten: Ein Pterodaktylus segelte über den Laufsteg, Gletscher brachen aus dem Boden heraus und zur Eröffnung der Show flogen Feuerkugeln durch die Luft.

Maria Grazia Chiuri spielte mit fließenden Übergängen zwischen den Geschlechtern und spielte dabei augenzwinkernd auf Orlando an, mit Stücken, die sowohl feminin (Korsetts) als auch maskulin (strukturierte Jacken) und androgyn (Röcke und Hosen) waren. Und da die Hauptfigur aus Virginia Woolfs Roman verschiedene Epochen durchlebte, verliehen zahlreiche Details den Kleidungsstücken einen historischen Look aus verschiedenen Epochen. Maria Grazia Chiuri schnitt Mäntel im Stil des 19. Jahrhunderts aus innovativen Stoffen und kombinierte üppige barocke Details mit modernen Entwürfen. Hermelin zu schwarzem Leder und bedruckten Oberteilen, Spitze und Fransen, Stickereien und ausgestellten Manschetten. Hier und da fügte die Designerin ein Zitat von Virginia Woolf ein, in ihrem letzten kreativen Werk für das Haus Dior.
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