Veröffentlicht am
27. Juni 2025
Jonathan Anderson präsentierte seine Debütkollektion für Dior hinter dem berühmten französischen Militärdenkmal Les Invalides. Am Ende der Show deutete alles auf eine ruhmreiche Zukunft für den Designer hin.
Man könnte es eher als „The New Era“ denn als „New Look“ bezeichnen, denn der Ire griff auf die DNA von Dior und viele Damenkollektionen von Monsieur Dior selbst zurück, um ein starkes, wegweisendes Modestatement zu schaffen.
Ein Beispiel hierfür ist das mehrfach gefaltete Delft-Kleid aus Seidenfaille von Monsieur Dior aus dem Herbst 1948, das Anderson für seinen Eröffnungslook in eine Cargo-Shorts aus weißem Denim verwandelte.
Ein großartiger karierter Wollmantel, der zwar tailliert geschnitten ist, aber unterhalb der Hüfte wellenförmig ausläuft, erinnerte an einen Look aus dem Frühjahr 1948 und führte zu einer großartigen Serie elefantöser Herrenhosen mit Wickeloptik.
Anderson hat offensichtlich lange Schichten bei Dior geschoben, die Codes verinnerlicht und in den Archiven gestöbert. So spielte er auf einen weiteren Dior-Klassiker an, den Moiré-Mantel La Cigale von Christian aus dem Herbst 1952. Aber er brachte ihn mit einigen großartigen Mänteln ins 21. Jahrhundert. Zudem waren seine Versionen der für das Haus typischen Bar-Jacket mit Fischgrätenmuster geradezu sensationell.
Überall war ein edwardianisches Flair zu spüren – mit hohen Kragen, Strümpfen und geknoteten Schleifen, die allerdings ohne Hemden getragen wurden, und gepaart mit großartigen grauen Fracks von Dior, die wiederum mit verwaschenen Jeans kombiniert wurden. Auch Andersons Sommerwesten aus Leinen – in Rosa oder mit Blumen verziert – werden sich sicherlich großer Nachfrage erfreuen.
Viele Looks wurden zu Boxstiefel-ähnlichen Wildlederschuhen kombiniert. Darüber hinaus kreierte er eine auffällige neue Mopp-Tasche, spielte aber ansonsten mit Diors beliebter Stofftasche, indem er viele Versionen mit klassischen Romanen bedruckte – von Françoise Sagans “Bonjour Tristesse” bis hin zu Bram Strockers “Dracula”.
Wenn auch gelegentlich unberechenbar – ein oder zwei Looks mit Chinohosehosen und gestreiften Hemden erinnerten daran, dass Anderson bereits mehrere Capsule Collections für Uniqlo entworfen hat – so fühlte sich doch alles wie ein bedeutendes Herrenmode-Statement und ein großer Erfolg an.
Es war zweifellos das am meisten erwartete Designer-Debüt in diesem Jahrhundert. Man schaue sich nur die anderen Designer an, die zu diesem Anlass erschienen sind: Donatella Versace (für die er kurzzeitig Versus entwarf), Stefano Pilati, Nicolas Di Felice von Courrèges, Glenn Martens, Silvia Fendi, Pierpaolo Piccioli, Daniel Roseberry, Christian Louboutin, Chitose Abe, Michael Rider, Julien Dossena, Chemena Kamali, Pharrell Williams und Kris Van Assche. Ein wahres Designer-Gewimmel.

Der 40-jährige Nordire übernimmt die Leitung von Dior als bereits gefeierter Star. Er hat Loewe, die führende spanische Marke von LVMH, im letzten halben Jahrzehnt zur angesagtesten Show in Paris gemacht. Mit der Wahl der Location respektierte Jonathan die Tradition, denn es war derselbe Ort, an dem sein unmittelbarer Vorgänger Kim Jones im Januar seine letzte Show für Dior gezeigt hatte. Damit endete die Ähnlichkeit, denn von Kims Stil war keine Spur mehr zu sehen.
Allerdings erinnerte das Bühnenbild an Andersons erste Show bei Loewe, bei der präzise gegossene Betonblöcke als Sitzgelegenheiten dienten. Bei Dior saßen die Zuschauer auf akkuraten Sperrholzblöcken unter einer hohen Decke, die vollständig aus beleuchteten Quadraten bestand.
Schon als er in den sozialen Medien seine neue Ära bei Dior ankündigte, war es eine respektvolle Hommage an den Klassizismus. Genau wie diese Kollektion, auch wenn er es geschafft hat, die Codes komplett auf den Kopf zu stellen.
Etwas exzentrisch erzählte ein französischer Redner vor der Show ausführlich von den genauen Schnitten, Abnähern, Formen und Stoffen der Dior-Looks. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um den Indie-Regisseur und französischen Frauenschwarm Louis Garrell handelte, der aus den Memoiren „Dior und ich“ vorlas. Garrell, dessen Haarschopf offenbar als Inspiration für die Frisuren der Models diente, saß zusammen mit Louvre-Direktor Laurence Descartes, Roger Federer, Robert Pattinson, Daniel Craig und Rihanna in der ersten Reihe.
Im Vorfeld und während der Show spielte Jonathan Anderson auch auf Monsieur Diors große Zuneigung für den britischen Geschmack an, indem er beispielsweise Mitte April ein blaues Hemd mit einer Anstecknadel für Dior auf Instagram postete – sechs Wochen vor seiner offiziellen Ernennung. Er machte online alle möglichen Andeutungen, von einem Maßband, das zu einem Fingerhut zusammengerollt wurde, damit es wie eine Schnecke auf einem riesigen Blatt aussah, bis hin zu einem bestickten Louis-XIV-Stuhl, den er persönlich neu gestaltete.
Anderson, der die Herren-, Damen- und Couture-Kollektion von Dior leiten wird, hat ebenfalls das taubengraue Logo des Hauses überarbeitet und die Großbuchstaben Dior durch ein kleines D ersetzt. Am Eingang des riesigen Show-Zeltes war eine gigantische Abbildung von Diors neoklassizistischem Salon in der Avenue Montaigne zu sehen, in dem am 12. Februar 1947 die Geburtsstunde des Hauses und des legendären New Look schlug.
Weiter ging es im Inneren mit zwei Kunstwerken – Ölgemälden von J.B.S. Chardin, die eine Vase voller Blumen und einen Teller mit Himbeeren darstellen. Beide wurden für die Ausstellung vom Louvre ausgeliehen und von LVMH-CEO und Andersons oberstem Chef, dem französischen Milliardär Bernard Arnault, sorgfältig studiert. Ebenso wie von Jonathans stolzen Eltern, seinem Rugby spielenden Vater und ehemaligen Kapitän der irischen Rugby-Nationalmannschaft Willie und seiner eleganten Mutter und Lehrerin Heather.

Im Anschluss an die Show fragte FashionNetwork.com Arnault nach seiner Meinung: „Es war, offen gesagt, magnifique!”
Das meiste Aufsehen erregte jedoch vermutlich die eigenwillige Einladung von Anderson – ein weißer Keramikteller mit drei Keramikeiern. Wie die soliden Hocker, hatte es etwas Beruhigendes.
Als Jonathan als Teenager am Rande der Kleinstadt Magherafelt in der Grafschaft Derry aufwuchs, bestand sein erster Job als Teenager darin, Eier von einem örtlichen Bauernhof zu holen.
“Wir kamen nach Hause, und da war ein Schild mit der Aufschrift ‚Eier zu verkaufen‘. Jonathan war schon immer ein unglaublich harter Arbeiter. Er lässt sich nicht unterkriegen und hört nie auf. Aber er ist immer noch derselbe Mensch, den wir kannten, als er Nordirland verließ. Und das freut uns”, sagte sein sichtlich stolzer Vater.
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